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Klein-Gudrun, die Geschenke-Botin


Zu den unliebsamsten Aufgaben, die ich als Kind übertragen bekam, zählte das Überbringen von Geschenken anlässlich von Verlobungen, Hochzeiten, und ähnlichen Anlässen. Aber ich kam da nicht drum rum.


In diesem kleinen Ort, in dem ich aufwuchs und wohnte, kannte natürlich jeder jeden; und natürlich besuchten auch viele unser Lokal. Also war es Pflicht, den Leuten bei besonderen Angelegenheiten etwas zukommen zu lassen. Und diese Feste fanden immer am Sonntag statt.

Meine Eltern selbst hatten keine Zeit, um am Sonntag im Dorf herum zu laufen und Geschenke zu überbringen; die hatten mit der Kneipe und der Küche genug zu tun.

Also war immer ich als das ältere Kind die Überbringerin. Leider. Ich hasste es, zu fremden Menschen zu gehen, in den “Festsaal” gebeten zu werden, wo die gesamte Festgesellschaft meist bei Kaffee und Kuchen sass - und mich anstarrte und wartete, was nun passierte.


Und einmal passierte es - ich musste zur Verlobung eines der Söhne des Pächters unserer Schmiede. Zum Glück kam in diesem Fall das Brautpaar zu mir in die Küche, und ich musste mich nicht den Blicken all der geladenen Gäste aussetzen. Aber trotzdem. Das Geschenk war aus Glas (Frieda liebte Bonbonieren), ich trug es in der linken Hand, denn die rechte brauchte ich zum Gratulieren, und das Päckchen fiel mir aus der Hand, und natürlich war das Glasteil zerdeppert.


Nun stand ich also da, und ich wusste: Wenn das meine Mutter erfährt, dann ist das Geschrei groß.


Aber die Brautleute trösteten mich, und sie versprachen, dass sie meinen Eltern nichts sagen würden. Meinem Vater wäre es sicher egal gewesen. Aber Frieda ...!

Und dieses ihr Versprechen hielten sie auch. Bis an ihr Lebenende erfuhr Frieda nichts von meinem Missgeschick.





Eine weitere Reise in die USA ?


Ich war damals fasziniert von diesem Staatenverbund, vor allem von der Weite des Landes, die Freiheit signalisiert, die aber doch gar nicht vorhanden ist, wie ich heute weiß.


Damals war ich gut zu Fuß, mit meinem zweiten Mann hatte ich viele größere Wanderungen unternommen; mit Leichtigkeit konnte ich 30 km am Tag bewältigen.

Und dann las ich einen Bericht über Wanderungen auf dem Appalachean Trail, dem längsten Fernwanderweg der Welt, der von nördlich Atlanta im Süden bis fast zur canadischen Grenze  im Norden reicht: ca. 3500 km durch die Appalachen, eines der ältesten Gebirge der Erde.

Das wollte ich auch machen! Alles in einem Stück! In einem halben Jahr müsste das zu schaffen sein, dafür wollte ich mir unbezahlten Urlaub geben lassen.


Nur: Wer sollte bzw. wollte mitgehen? Das war das eigentliche Problem. Wandernde Männer gab es, ich lernte einige kennen; auch solche, die ihren Urlaub mit Wanderungen durch die Alpen verbrachten. Aber das, was ich vorhatte, das war für sie einfach nur verrückt und undenkbar. Es gab auch wandernde Frauen, die samt und sonders dieser Idee viel offener gegenüber standen. Aber die waren fast alle verheiratet, hatten meist auch kleine Kinder, die sie nicht alleine lassen wollten bzw. konnten. Also fand ich keinen einzigen Mit-Wanderer. Und so beschloss ich schweren Herzens, diesen Plan erst mal auf Eis zu legen. Ich dachte, dass ich vielleicht irgendwann irgend-jemanden von meinem Plan begeistern könnte, und dann irgendwann   dieses Vorhaben verwirklichen könnte. Die Appalachen sind ja nicht der Himalaya, und so, so dachte ich, könnte ich auch noch im Rentenalter meinen Plan Wirklichkeit werden lassen.


Wenn das Wörtchen “wenn” nicht wäre. Denn wenn man 40 oder 45 Jahre alt und gesund ist, kann man sich nicht so recht vorstellen, dass das irgendwann einmal nicht mehr so ist.





Auszug aus der Familienchronik -

eine  Familie in London - 10. Generation


Karl Hahn, geb. 29. Mai 1853; Bäcker in London (seit 1873). Er heiratete am 8. März 1885 Rosa Margarete Andrews in London.


Kinder:

Christine Marta, geb. 12. Januar 1886

Rosa Elisabet, geb. 3. Juli 1887

Friedrich Karl, geb. 20. Dezember 1888

Heinrich Thomas, geb. 24. Oktober 1890

Albert, geb. 17. September 1892

Ernest, geb. 22. Januar 1895

Frank, geb. 6. Oktober 1897

(ein Mädchen), geb. 7. Oktober 1902

William, geb. 6. Januar 1904


Karl ist am 17.12.1916 in London nach 18monatiger Krankheit (Schwindsucht) gestorben. Die Familie hat, wie die Witwe schrieb, um den Kindern wegen des deutschen Namens das Erhalten von Beschäftigung nicht zu erschweren, den väterlichen Namen “Hahn” abgelegt und nennt sich jetzt nach der Mutter “Andrews”. Adresse von 1921:


37 Bramshill Gardens

Dartmouth Park

Highgate NW 5

London


Anmerkung: Ich eruierte diese Adresse mittels Google-Earth; laut denen sie noch existierte. Am liebsten wäre ich nach London geflogen, um dort hin zu gehen. Aber: Ein Freund, Engländer, Fagottist in dem Quartett, in dem ich Klarinette spiele, wollte sowieso in diesen Stadtteil Londons, im Auftrag eines Freundes. Er sollte das Grab dessen Kindermädchens aufsuchen, das sich hatte dort auf dem Friedhof begraben lassen, weil dort auch Karl Marx begraben ist, den sie heiß verehrt hatte.


Und dieser Freund von mir berichtete, dass die Straße mittlerweile nur noch bis zur Hausnummer 32 geht, dann sei Schluss. Wenigstens hatte er es versucht; wohingegen er nicht das Grab des Kindermädchens seines Freundes besuchen konnte, da es dann angefangen hatte, fürchterlich zu regnen, und er  keinen Regenschirm mitgenommen hatte.