Seite 5

Seite 5

Die Eltern

Mein Vater Herbert Oehme


Mein Vater stammte aus Sachsen, aus Heidenau, ein paar Kilometer südlich von Dresden. Er kam kurz vor dem 2. Weltkrieg als Soldat mit seiner Kompanie nach Steinhardt; sie lagerten auf der großen Wiese gegenüber dem Haus; so lernten sich meine Eltern kennen. Obwohl sie also  unterschiedlicher nicht hätten sein können (mein Vater war Sozialdemokrat, Frieda Nazisse), verliebten sie sich ineinander. Die Hochzeit war eine Kriegstrauung.


Ursprünglich war vorgesehen, dass sie einmal in Dresden oder Heidenau ansässig würden. Denn Friedas Bruder Otto sollte ja den elterlichen Betrieb übernehmen. Leider änderte sich alles im Zuge der Unternehmungen des “Führers”, und leider nicht zum Guten.


Mein Vater war als Soldat in Polen und in Frankreich; dort kam er in amerikanische Kriegsgefangenschaft, aus der er Ende 1947/Anfang 1948 entlassen wurde. Jedenfalls kam mein Bruder kurz vor Weihnachten 1948 zur Welt.


Ob er wirklich auch mein biologischer Vater war, erscheint mir manchmal recht zweifelhaft. Denn: Ich wurde Ende März 1945 geboren, müsste also Ende Juni/Anfang Juli 1944 gezeugt worden sein. Aber am 6. Juni 1944 begann die Invasion der Alliierten in Frankreich. Und ob man in dieser Zeit einen Soldaten hätte in die Heimat reisen lassen, erscheint mir doch recht fraglich. Zumal mir auch nichts von einer Verletzung bekannt ist, die er vielleicht hätte auskurieren müssen.


Sein  erster  Weg  nach  der  Entlassung  aus  der  Kriegsgefangenschaft führte meinen Vater zu seiner Frau und nicht zu seiner früheren Meldeadresse in Heidenau; dies wurde ihm auch, als er bei der Waldböckelheimer Gemeindeverwaltung sich anmeldete,  gleich  zum  Vorwurf  gemacht, wie  ich  aus Erzählungen weiß (“Warum gehen Sie nicht dahin, wo Sie hingehören?”).


Meine erste Begegnung mit ihm war eher unglücklich. Immer war mir gesagt worden: “Das da auf dem Bild (das in der Küche hing), das ist dein Vater.” Wie hätte ich 3jähriges Kind das richtig begreifen können? Als man mir dann sagte, dass dieser Mann, der da in natura vor mir stand, mein Vater sei, soll ich das vehement abgestritten haben und auf das Bild gezeigt haben: “Nein! Das da ist mein Vater!” Und ich handelte mir damit eine Ohrfeige von meinem Vater ein. Dessen Enttäuschung über mich war sicher in diesem Moment auch groß.


Aber: Mein Vater war mir ein überaus guter Vater, wenn man mal von einer kurzen Zeit absieht, während der er krank und unleidlich war. Er kümmerte sich um mich und mein Wohlergehen, und ohne ihn wäre mir vieles nicht vergönnt gewesen.


Er blieb bei seiner Frau, lernte von seiner Schwiegermutter die Landwirtschaft und den Weinbau und arbeitete fortan wie ein ganz normaler Landwirt, auch wenn ihm nichts von alledem gehörte.


Man könnte auch böswillig sagen, dass er der Knecht seiner Frau und seiner Schwiegermutter war.


Klar war, dass er zeit seines Lebens SPD wählte, und seine Frau tat das auch zu seinen Lebzeiten (denn “das macht ‘frau’ so”), aber danach ...


Es gab auch einen Knecht, an den ich mich so gut wie gar nicht mehr erinnere; an den nächsten dagegen um so besser bzw. schlechter.


Außerdem gab es mal eine kurze Zeit lang eine Magd, die wohl in einem verwandtschaftlichen Verhältnis zu unserer Familie stand, und die von ihrer Familie für eine Weile weggeschickt worden war. Wahrscheinlich hatte sie ein unerwünschtes Liebesverhältnis, da griff man damals schon mal zu solchen Mitteln.

Aber dann fing sie während ihres Aufenthaltes bei uns wohl wieder ein Techtelmechtel an, so dass sie auch bei uns nicht bleiben konnte.


Vater war ein extrovertierter Mensch, der schnell Kontakt zu anderen fand. Doch im Ort war er immer nur ein “Zugereister”, und so kam es wohl, dass er sich in der Gemeinschaft mit besonderen Taten für diese etablieren wollte.


So initiierte er für den örtlichen Gesangverein eine Sammlung zur Anschaffung einer Vereinsfahne. Er sammelte Geld dafür, was wohl manchmal sehr viel Überredungskraft kostete, denn Bauern und kleine Geschäftsleute trennen sich nicht gerne von Barem, na gut - andere auch nicht.

Aber es gelang ihm letztendlich. Und mit einem Riesenbrimborium mit  Sängerfest und Umzug durch den Ort mit “Ehren-Jungfrauen” (sowas gab es damals noch!) und einem lange einstudierten Tanz derselben wurde die Fahne geweiht.


Ich glaube, dass er durch sein extrovertiertes Wesen wie geschaffen war für den Teilzeit-Beruf eines Gastwirtes. Nur eines ärgerte ihn: wenn jemand bis in die Nacht hinein vor einem einzigen Glas Wein (oder Bier) sass, dummes Zeug schwätzte und ihn damit vom wohlverdienten Schlaf abhielt.


Zudem war er sicher einer der ersten, der einem sehr hochnäsigen Gast, dem der Wein aus der nicht-etikettierten Flasche nicht schmeckte, dieselbe dann nochmals servierte - dieses Mal mit einem Etikett versehen, und auf einmal  erschien dieser Wein dem Gast als ein köstliches Gesöff.


Er war auch zumindest Mitinitiator eines Kühlhauses im Dorf, das einen Kühlraum für die hausgeschlachteten Tiere hatte, wo diese auch zerlegt und weiterverarbeitet werden konnten, und in dem sich die Dorfbewohner Tiefkühlfächer mieten konnten.


Irgendwann stellte ich mit Erstaunen fest, dass mein Vater sogar Fanfare blasen konnte. Am Sonntagmorgen war Training für die freiwillige Feuerwehr, wozu mit der Fanfare gerufen wurde. Der “Rufer”, Bläser stand gegenüber von unserem Haus, und es muss sich schrecklich angehört haben! Mein Vater ging zu ihm, nahm ihm die Fanfare weg und blies das Signal richtig.


Was ihm nicht gelang, war die Errichtung eines Gedenksteins für die Gefallenen des Ortes. Er hatte wieder Geld gesammelt, unter Mithilfe eines Steinmetzes einen Stein gefunden, einen Findling, ihn auch schon auf den kleinen örtlichen Friedhof schaffen lassen. Und da stand er nun über Jahre, denn das gesammelte Geld  reichte wohl nicht aus, um den Stein weiter zu bearbeiten. Schließlich bekam er einen Bescheid der Gemeindeverwaltung, dass der Stein innerhalb von soundsoviel Tagen oder Wochen wegzuschaffen sei, da er nicht die Erlaubnis zur Aufstellung desselben hätte.


Das war’s dann. Seitdem kümmerte er sich nicht mehr um gemeinnützige Dinge.


Als der Steinmetz meinem Vater diesen Findling zeigte, durften mein Bruder und ich mitfahren in den Wald, wo er lag (ich weiß nicht mehr in welchem Wald das war). Es war tiefer Winter, alles war verschneit. Wir beiden Kinder mussten im Auto warten; die beiden Erwachsenen stapften los. Und es dauerte und dauerte und dauerte, uns Kindern erschien die Zeit, die wir warten mussten, endlos lange. Wir malten uns die unmöglichsten und schrecklichsten Dinge aus, die den beiden geschehen sein könnten und fragten uns, was denn aus uns werden würde; und wir weinten bitterlich. Wie glücklich wir waren, als beide wieder zurück kamen!


Doch trotz all seiner Bemühungen blieb er zeitlebens im Ort der “Mann von Venter’sch Frieda”, obwohl es ja normalerweise so war, dass die Frau dem Mann zugeordnet wurde. Aber dagegen konnte er nicht ankommen, er war ein Zugereister, Eingeplackter, einer, dem nichts gehörte.


Von meinem Vater Herbert habe ich früh gelernt: “Egal welcher Nation jemand angehört  oder  welche Hautfarbe bzw. Religion jemand hat: Alle Menschen sind gleich, überall gibt es Gute und Böse.” Und danach handele ich bis heute und sicher auch bis an mein Lebensende.


Diese Erkenntnis brachte er aus seiner amerikanischen Kriegsgefangenschaft mit, während der er selbstverständlich auch in Kontakt kam mit farbigen amerikanischen Soldaten. Einer davon kam sporadisch immer mal wieder in unsere Gaststätte; bei seinem letzten Kommen konnte ich ihm nur noch von Herberts Tod berichten.


Mein Vater war ein begeisterter Besucher des Jahrmarktes in Bad Kreuznach, einem großen Volksfest, aber auch jeder kleinen Kirmes. Denn: Er liebte jede Art von Karussell. Am liebsten war ihm aber wohl das Kettenkarussell. Ich erinnere mich noch daran, wie wir Beide auf der Kirmes in Langenlonsheim, wo meine zweiten Schwiegereltern wohnten, Kettenkarussell fuhren und großen Spaß dabei hatten, während Frieda daneben stand und jammerte: “Herbert!!! Was sagen denn die Leute!?” - Was Herbert wohl sch...egal war. Im Zweifelsfall freuten sie sich mit ihm über seine Lebensfreude.


Mein Vater brachte mir das Fotografieren bei und erklärte mir genau und anschaulich die Sache mit der Belichtungszeit und der Blende. Ich habe das nie mehr vergessen. Viele haben damit ja Probleme und können oft nicht verstehen, wieso eine kleine Blendenzahl eine große Öffnung derselben bedeutet. Herbert erklärte es mir vorbildlich!


Auch Schach lernte ich von ihm. Allerdings  brachte  ich  es dabei  nie  zu größeren Leistungen. Sicher fehlte es mir auch an Gegnern.


Wie schon erwähnt, war die Höhenlage Steinhardts eher wenig geeignet zum Weinanbau. Und so kam es, dass immer wieder Mai-Fröste auftraten, die die Weinstöcke schädigten. Da wir in unserer Gaststätte normalerweise nur Wein aus eigenem Anbau ausschenkten, belastete der Zukauf von Wein natürlich enorm den Haushalt. Und mein Vater war kein guter Geschäftsmann und tat sich schwer damit, den Verkaufspreis zu erhöhen.


Also kam es zu einer immensen Ausgabe: Er kaufte “Öl-Öfen” für die Weinberge, zumindest für einige. Des Nachts kontrollierte er dann stündlich das Thermometer; und bei Bedarf ging er in die Weinberge und zündete die Öfen an, um zumindest einen Teil der zukünftigen Ernte zu retten.


So kam es durch kalte Witterung auch einmal während meiner Kindheit zu einem einmaligen Phänomen: Der Traubenmost weigerte sich zu gären. So kalt war es sogar nach der Weinlese im Herbst in unserem alten Gewölbekeller. Vater fuhr deshalb nach Bad Kreuznach zur “Weinbauschule”, erhielt dort Hefen, um dem Most einen Schub zu geben. Diese Hefen wurden erstmal mit wenig Most in einer 1 l-Flasche hinterm Ofen zum Gären gebracht, als das gelungen war, in eine 3 l-Flasche mit Most umgefüllt, und dann ... in ein kleines Fass im Keller - und nichts passierte mehr. Vater musste also wieder zur “Weinbauschule”, Nachschub holen.

Irgendwann aber, ich glaube beim dritten oder vierten Versuch, klappte es dann.

Und an Silvester hatten wir endlich “Federweißer” (Rauscher, Bitzler, oder wie er sonst noch heißt). Und jeder wollte davon trinken - klar! Ist ja auch eine Rarität.


Er tat also alles, um die “Firma” am Laufen zu halten. Dazu gehörte auch, dass er schon  im  Herbst  1953 ein Fernsehgerät anschaffte, für den enormen Preis von 1200 DM! Ich werde darüber noch später ausführlich berichten.


Als Reminiszenz an seine alte Heimat Sachsen kaufte er sich irgendwann ein Paar gebrauchte Ski. Es waren so richtig altmodische, aus Holz, mit einer ganz einfachen Bindung. Leider kam er zu selten dazu, damit durch Wald und Feld zu gleiten. Oft liehen wir Kinder sie uns aus, obwohl sie für uns natürlich viel zu lang waren, und wir rutschten damit kleine Hügel hinunter.


Meine Rollschuhe wollte er natürlich auch selbst ausprobieren, mit denen ich im Winter durch den langen Hausflur bis in die hinteren, selten genutzten Räume fuhr. Denn “früher war ich ein guter Rollschuhläufer”, früher! Jedenfalls verschwand er um die Ecke des Flurs, und dann tat es einen Schlag - und ich hörte einen “Sch...”-Ruf - und Herbert konstatierte, dass die Rollschuhe einfach  so weggefahren waren, ohne seinen Körper, nur mit seinen Beinen -  und er versuchte dieses Kunststück kein zweites Mal.


Mein Vater hatte eine unnachahmliche Art, Kindern - und Erwachsenen - gutes Benehmen beizubringen. Wenn jemand, egal wer, die Haustür öffnete und ohne die Tageszeit zu entbieten, hereinkam, kam unweigerlich von Herbert die Bemerkung: “Geh’ wieder  raus und komm’ dann nochmal rein!” Und das so oft, bis der-/diejenige grüßte. Ob so etwas auch heutzutage noch eine Wirkung zeitigen würde,  ist eher zweifelhaft.


Wie schon gesagt: Steinhardt hatte gar nichts; keine Kirche, keine Schule, keinen Kindergarten, nichts. Und wenn Polizei gebraucht wurde,  musste sie von Sobernheim geholt werden (wenn die Polizisten nicht gerade “außerhalb” - sprich: in einer Kneipe - zu tun hatten). Es kam des öfteren vor, dass an ihrer Bürotür ein Zettel hing: “In dringenden Fällen bitte ... (in einer Kneipe) melden”.


Doch manchmal und unerwartet gingen sie auch ihrer Pflicht nach. Und so geschah es eines Nachts, dass sie in unserer Gaststätte auftauchten, als die “Polizei-Stunde” schon lange geschlagen hatte. Einer der Polizisten meinte: “Lassen Sie doch bitte die Kirche im Dorf, Herr Oehme.” Worauf mein Vater schlagfertig entgegnete: “Wir haben keine Kirche in Steinhardt, Herr ....” - “Sie wissen schon, was ich meine, Herr Oehme.”


Herbert sorgte auch dafür, dass die Eltern sich  zumindest einen Tag im Jahr frei nahmen und die Gaststätte tagsüber schlossen, um mit uns Kindern einen Ausflug zu machen. Sei es nach Bad Münster am Stein, sei es zum Niederwald-Denkmal oder nach Niederheimbach zum Märchenwald (wo er auf der Rückfahrt mit dem Schiff von Niederheimbach nach Bingen seinen Fotoapparat liegen ließ, ihn aber dann doch wieder bekam).


Ich erinnere mich auch an einen Tag, als wir zuerst gemeinsam zum Zahnarzt gingen. Er ließ sich einen Zahn ohne Betäubung ziehen, und ich ...? Das weiß ich nicht mehr, jedenfalls war es nicht so spektakulär. Anschließend gingen wir gemeinsam ins Kino. Es wurde ein Film über die Zerbombung von Dresden gezeigt. Mein Vater hatte sich zwei Reihen hinter mir hingesetzt. Während der Filmvorführung drehte ich mich einmal zu ihm um ... und sah ihn weinen.


Ich weiß nicht mehr, ob es 1960 oder 1961 war, dass er für die anstehende Fastnachtsveranstaltung am 09. Januar sich aufmachte nach Sobernheim, um für diese Veranstaltung Rosemarie Schwab zu engagieren. Später änderte sie ihren Namen in Mary Roos. Ihre Eltern betrieben kurze Zeit eine Gaststätte in Sobernheim, und sie ging in die gleiche Schulklasse wie mein Bruder.  Herbert ging also zu ihnen und fragte. Und sie kam, an diesem ihrem Geburtstag, zusammen mit ihrer Schwester, die sich später Tina York  nannte.

Das war doch mal ein Aufhänger für diese jährliche Veranstaltung! Rosemarie bekam als Honorar einen Präsentkorb, und alle waren’s zufrieden.

       


Später in  den 60er  Jahren hatte (fast) jeder selbst einen Fernsehapparat im  heimischen  Wohnzimmer  stehen,  die Gasthaus-Umsätze sanken, die Verbindlichkeiten blieben jedoch  die gleichen, und mein Vater entschloss sich, eine Arbeit anzunehmen. Erst arbeitete er bei einem Bauunternehmen, dann in einer Gesenkschmiede am Schmiedehammer.


Als sich  herausstellte, dass  sein Arbeitsentgelt doppelt versteuert werden musste (einmal  regulär  als lohnsteuerpflichtiges Entgelt, außerdem noch einmal mit den Umsätzen der Gaststätte), wurde die Gaststätte geschlossen, die Felder wurden verpachtet, die letzten  Tiere  abgeschafft.  Das veranlasste meine Großmutter zu der Aussage: “Was sind wir doch arm geworden; noch nicht einmal ein paar Hühner können wir ernähren.”


Ende  1963  hatte  mein  Vater  seinen  ersten Herzinfarkt. Er  hatte an einem Sonntagabend  Schmerzen in  der  Brust, zum Glück wusste meine Mutter, dass ein prakt. Arzt aus  Sobernheim  einen  seiner Steinhardter Patienten noch am Abend besuchen wollte und rief dort an. Mein Vater  musste ins Krankenhaus nach Sobernheim, danach zur Reha nach Bad Münster am Stein.  Alle  Ärzte wollten, dass  er  aufhört zu arbeiten, aber das wollte er nicht. Er wollte seine Rente aufbessern und seine Frau besser versorgt wissen.

Er musste lange Zeit zu Hause bleiben. Er verkraftete das Nichtstun absolut  nicht  und  war  oft  sehr  unleidlich.  Das besserte sich, als  er wieder arbeiten konnte. Und er war mir dann später eine große Stütze in meiner verzweifelten Lage.


Im  Zuge  der  Untersuchungen  im  Krankenhaus  wurde   ein  Diabetes  bei  ihm festgestellt.  Ich weiß nicht, ob  man  es damals schon wusste,  jedenfalls  weiß man heute, dass  wohl  der Diabetes schon länger unentdeckt bei ihm vorhanden war, und dass der Herzinfarkt  eine  Folge des Diabetes war. Leider ging er sehr unachtsam mit dieser Erkrankung  um. Außerdem waren die Möglichkeiten der Behandlung  dieser   Krankheit  noch  nicht so weit fortgeschritten wie heute,  so  dass der weitere Verlauf der Erkrankung damals wohl unausweichlich war.

Jedenfalls habe ich diese Krankheit von ihm geerbt - und ich achte sehr darauf.


Ab  1967  wohnte  ich nicht mehr in Steinhardt.  Ich sah meinen Vater nicht mehr so oft.

Er  erlitt einen  zweiten  Herzinfarkt  -  und  wieder rieten ihm alle Ärzte, nicht mehr zu arbeiten, aber er wollte das nicht, und er hörte nicht auf die Ärzte.


1974 erhielt ich vom Vater meines zweiten Mannes einen Anruf an meinem Arbeitsplatz: Mein Vater war gestorben. Und Frieda hatte ihn angerufen, damit er es mir sagt. Komisch? Sicher. Mein Schwiegervater rief auch meinen damaligen Mann an, der bei der gleichen Firma arbeitete. Mein Chef  beurlaubte mich ohne Zögern auf unbestimmte Zeit.


Erst nach und nach erfuhr ich die näheren Umstände seines Todes. Mein Vater klagte wohl  schon  am  Vorabend und die ganze Nacht  über höllische  Schmerzen  in der Brust - trotzdem rief Frieda erst am nächsten Morgen einen Arzt. Und da konnte niemand mehr etwas für ihn tun.


Man hätte Frieda wegen unterlassener Hilfeleistung anklagen sollen. Aber wie schon gesagt:  Ich  erfuhr dies im Detail erst Jahre später. Kein Wunder, dass sie mich nicht selbst anrief!


Doch  ich  weiß  eines:  Jemand  ist  erst  dann wirklich tot, wenn keiner mehr an ihn denkt. Das werde dann wohl ich sein, der ihn einmal mit meinem Tod sterben lässt, denn ich weiß nicht, ob mein Sohn noch an ihn denkt.





Mein Bruder, die Schulprüfung und die Fahrer der Brauerei


Mein Bruder war im Gegensatz zu mir kein musischer Mensch, aber diese Anekdote erzählte er selbst immer wieder gerne:


In der Volksschule stand ein Prüfung im Fach “Musik” an: Die Kinder mussten einzeln nach vorne zum Lehrer und ein Lied singen. Für meinen Bruder ein schwieriges Unterfangen. Aber er wusste sich zu helfen. Er sagte zum Lehrer: “Fangen Sie mal an, und ich steige dann ein.”


Einmal in der Woche kamen die Leute von der Brauerei, um Nachschub zu liefern. Gewöhnlich kam der mit dem Namen Jakob ins Haus und holte den Kellerschlüssel. Einmal war sein Kollege schneller. Und Gernot sagte zu Jakob (im Dialekt “Jaab”), als der nach dem Schlüssel fragte: “De anner Jaab hott de Schlissel.” Er meinte, dass alle Bierfahrer Jakob heißen würden.





Die Eltern

Frieda, meine Gebärerin


Frieda  und ihre Mutter waren, wie wohl alle  im  Ort, überzeugte  Nationalsozialisten gewesen, was  auch  ihre  Notizen anlässlich eines  Berlin-Besuchs  belegen.  So  wie heute Teenager ihren Popstars nachreisen, so machte sie “Jagd” auf Nazi-Promis.


Als gute Nazisse  durfte sie mit “Kraft durch Freude” mit dem Schiff nach Norwegen. Und amüsierte sich köstlich, was Bilder mit Schiffsoffizieren belegten.


Frieda  war  eine  Frau  voller falscher  Prinzipien,  die  sich vor allem danach richtete was  “man”  tat  oder  nicht  tat,  und danach was “die Leute” wohl denken und sagen. Darüber hinaus   handelte sie nach dem Motto “Nach  oben buckeln, nach unten treten”. Menschlichkeit war  für  sie ein Fremdwort;  Tierliebe sowieso: Wenn  Tiere  zu  nichts nütze waren, dann waren sie unnütze Fresser.


So  durfte  ich auch  nicht  mit  diesem  Fehltritt-Kind,   das  Schwiegervater  und  Schwiegertochter  miteinander  gezeugt   hatten,  spielen.  Aber  als  dieses  Mädchen dann in späteren Jahren eine “gute Partie” machte, in  Steinhardt  ein  Haus baute und wohlgeratene Kinder  hatte,  da  wurde  sie  immer wieder lobend und beispielhaft erwähnt.  Und  sicher   wäre  Frieda  ganz  erstaunt  gewesen,  wenn  man  sie  auf  ihre frühere Einstellung angesprochen hätte. Wahrscheinlich hätte sie es sogar abgestritten.


Viele Ihrer Meinungen und Handlungen basierten auch auf ihrer Meinung, dass wir  “etwas Besseres”  seien  als  manch andere Leute. Das reichte bis zu Essensvorschriften:  Wir  hatten  es  nicht nötig, Zuckerrübensirup zu kaufen, denn wir hatten ja Obst im eigenen Garten und damit eigene Marmelade. Dass ich ab und zu mal gerne Zuckerrüben-Sirup gegessen hätte,  interessierte sie nicht. Wir taten das nicht, das taten nur arme Leute, punktum! Aus dem gleichen Grund durfte ich auch z. B. kein Leitungswasser trinken.


Aber  wir  wissen  ja alle: Das, was verboten ist, mag man besonders gerne. Ich aß und trank diese Sachen dann bei Nachbarn, die nicht so borniert waren.


Andererseits  profitiere ich  auch  bis heute (so hoffe ich wenigstens) davon, dass sie aus mir eine  “höhere Tochter”  machen wollte. Denn sie achtete auf gutes Benehmen, darauf, dass ich mich bei Tisch gut benehmen konnte, usw.

Sie  machte  mir  schon  früh klar, dass z. B. ein Gericht, das ich zu Hause gerne esse, bei  anderen  Leuten  ganz anders schmecken kann. Dass ich mir also nicht gleich den Teller vollladen, sondern erst mal probieren solle, wie es zubereitet ist.

Oder  sie  erklärte  mir,  dass  bei  Leuten,  die in der Stadt  wohnen, die Bekleidungsgewohnheiten  andere  seien  als  bei  uns  auf  dem  Land,  wo  man  eben  Werktags-Kleidung und Sonntags-Kleidung hat. Dass man sich andererseits in der Stadt seine Kleidung je nach Vorhaben  aussucht.


Dass  ich  schon  früh  mit Messer und Gabel essen konnte, und dass ich auch wusste, wozu man eine Serviette benutzt, ist wohl selbstverständlich.

Indessen  sehe ich bzw. habe bei meinen Enkeln gesehen, dass ein solches Betragen eben  nicht  selbstverständlich  ist;  denn meine Schwiegertochter legt da keinen Wert darauf. Schade für meine Enkel.


Sie  war  aber  auch  bis  zu  ihrem Tod (so denke ich) sehr, sagen wir mal, deutsch-national. Sie hatte gelernt,  dass  die  Franzosen  der  “Erbfeind” sind - und dabei blieb sie. Und als mein zweiter  Mann  Hans  B.  und  ich  sie  nach  dem  Tod  meines  Vater einmal (und nie wieder)  mitnahmen  zum  Urlaub  in Südfrankreich, kam es in Beaune in Burgund in einem Bistro zu folgendem Dialog mit ihr:

Frieda: “Komisch, wenn die Leute hier  nicht anders reden würden als zu Hause, würde man gar nicht merken, dass man in Frankreich ist.”

Daraufhin  ich:  “Was  dachtest  Du  denn,  wie  die  Leute  hier  aussehen? Grün-gelb kariert?”

Frieda: “Hmm. Ihr  wäret  wohl  gute  Franzosen.” Das war die größte Missbilligung, die  sie von sich geben konnte.


Ich  hatte  wohl schon als Kind ein gutes Gefühl für ihre Nicht-Menschlichkeit. Denn wenn  ich  mir   mal  eine  kleine Verletzung zugezogen hatte, z. B. einen Holzsplitter  im  Finger  hatte,  oder eine Zecke am Oberschenkel, oder eine Blase am Fuß, dann durfte sie mich nie verarzten. Das durfte nur mein Vater - oder “Tante” Ilse.


Nach dem Tod meines Vaters verbrachten mein damaliger Mann und ich so gut wie jeden Sonntag bei Frieda, und wir unternahmen kleinere Touren mit ihr. Dankbarkeit in irgendeiner Form hatten wir allerdings nicht zu erwarten. Einmal äußerte sie sogar, dass wir uns, wenn wir nun so oft zu ihr kämen, unser Essen doch mitbringen sollten. Sie sah nur, dass wir durch unsere häufige Anwesenheit bei ihr auch öfter bei ihr aßen; unsere Absicht dahinter bemerkte sie nicht. Das hörte  nach der Pleite mit dem gemeinsamen Frankreich-Urlaub auf. Von da an waren wir nur noch gelegentlich in Steinhardt. Und irgendwann dann gar nicht mehr.


Frieda wählte, solange mein Vater lebte, genau wie er immer die SPD (“Das macht ‘frau’ so.”), aber danach tat sie kund, von nun an die FDP zu wählen (“Endlich kann ich nun wählen, wen ich will!”). Nicht, weil sie so liberal gewesen wäre, nein! Sondern “weil die immer bei jeder Regierung dabei sind”. Nach Friedas Ansicht hingen die FDPler - genau wie sie - ihr Fähnchen immer in den Wind.








zurück zum Inhaltsverzeichnis